Wege aus der Stressfalle

Zum Thema Stress kursieren eine Menge Weisheiten: Stress kann auch positive Wirkungen haben. An Stress kann man sich gewöhnen. Er betrifft vor allem Leute mit schwachen Nerven. Überhaupt ist Stress eine Einstellungssache.
Irrtum - konstatieren die Experten vom Schweizer Verein www.stressnostress.ch, dem unter anderem das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) und die Schweizerische Gesellschaft für Arbeitsmedizin angehören. Echter Stress ist auf Dauer schädlich. Und den gern beschworenen stressresistenten Mitarbeiter hält Norbert K. Semmer, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Bern und Mitglied des Vereinsvorstands, für einen Mythos.
Auch milder Stress zehrt an der Gesundheit
Eine Weile kann sich der Organismus an Stress anpassen, halten die Schweizer Experten auf ihrer Internetseite fest. "Dauert der Spannungszustand aber ununterbrochen an und ist die Energie zur Anpassung erschöpft, dann treten verschiedene Symptome auf." Stressfolgen sind nicht nur teuer und belasten das Gesundheitswesen. Für den Gestressten und zuweilen auch seine Umwelt sind sie darüber hinaus unangenehm und auf Dauer ungesund: steigender Herzschlag und Blutdruck, Schweißausbrüche, vermehrte Ausschüttung der Hormone Adrenalin und Cortisol. Das hat zur Folge, dass die Hilfsbereitschaft ab- und die Gereiztheit zunimmt. "Wir machen Sätze nicht mehr fertig, hören schlechter zu, fragen unter Umständen nicht nach, wo es nötig wäre", beschreibt Semmer die Auswirkungen.
Wer unter Stress stehe, könne bei Entscheidungen nicht mehr alles berücksichtigen, was zu beachten wäre. "Wir konzentrieren uns auf das Nächstliegende", sagt Semmer, "die Zeitperspektive wird immer kürzer." Wer gestresst sei, kontrolliere auch oft seine Arbeit nicht mehr richtig. Zudem bestehe bei Gestressten die Neigung zum riskanten Handeln, sagt Semmer. "Wie zum Beispiel bei dunkelgelb über die Ampel zu fahren." Gestresste Chefs nutzen derweil Teamressourcen nicht mehr optimal - sie delegieren weniger und ziehen alles an sich.
Stress lässt sich nicht einfach wegdenken
Grundsätzlich kann es aber jeden erwischen, sagt Semmer. Dabei bestimmten zwar die Gedanken und Gefühle eines Menschen, ob er eine Situation als stressig empfindet oder nicht. Einfach wegdenken ließen sich belastende Situationen aber nicht.
Dies legt auch eine Studie des schweizerischen Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) aus dem Jahr 2000 nahe. Die zwölf Prozent der Befragten, die sich sehr gestresst fühlten, verursachten der Studie zufolge ein knappes Viertel der Kosten für medizinische Versorgung, Selbstmedikation, Fehlzeiten und Produktionsausfälle. Die große Mehrheit gab an, den Stress zu beherrschen und bei guter Gesundheit zu sein. Doch sie verursachte immerhin noch viermal soviel Kosten wie die 18 Prozent der nichtgestressten Befragten: jährlich 2340 Franken, das sind 1500 Euro pro Person. Insgesamt kommen der Studie zufolge 4,2 Milliarden Schweizer Franken, das entspricht 2,7 Milliarden Euro, stressbedingte Folgekosten zusammen.
Stress bei europäischen Arbeitnehmern weit verbreitet
Die Ursachen für arbeitsbedingten Stress sind vielfältig. Eine beständige Unterforderung kann ebenso stressen wie eine kontinuierliche Überforderung. Gleiches gilt für Schichtbetrieb, lange und unsoziale Arbeitszeiten oder unklare Verantwortlichkeiten. In Sachen Arbeitsaufkommen zählen zu viel Arbeit und hoher Zeitdruck zu den Stressfaktoren Nummer eins. Semmer zufolge lösen auch emotionale Anforderungen Stress aus - etwa der Umgang mit schwierigen Kunden oder in Gesundheitsberufen die ständige Konfrontation mit Leid und Tod. Auch widersprüchliche Anweisungen und die hohe Verantwortung für Sachwerte oder die Gesundheit Anderer sind wahre Ausgeglichenheitskiller.
Mehr als die Hälfte der 160 Millionen Arbeitskräfte in der Europäischen Union (EU) leidet unter arbeitsbedingtem Stress. Dies ergab eine Studie der europäischen Agentur "Der Stand von Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit in der Europäischen Union". Die Gründe sind unterschiedlich. 60 Prozent der Befragten arbeiten unter Zeitdruck und 56 Prozent mit hohem Tempo. Mehr als ein Drittel besitzt keinen Einfluss auf den Arbeitsablauf und 40 Prozent verrichten monotone Aufgaben. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Studie der Initiative "Neue Qualität der Arbeit", die eine repräsentative Umfrage bei den Erwerbstätigen in Deutschland initiiert und begleitet hat. Dieser zufolge ist mehr als die Hälfte der deutschen Arbeitnehmer unzufrieden mit ihrem Job und zählt somit zu potenziellen Stresskandidaten. Rund 20 Prozent der Befragten sehen jedoch Möglichkeiten, ihre Arbeitssituation selbst oder gemeinsam mit anderen zu verbessern.
Strategien gegen Stress lassen sich lernen
Aber nicht in allen Fällen gelingt es Arbeitnehmern, die Stressursachen auf eigene Faust abzustellen - auch, wenn es wirksame Strategien gibt. Zum Beispiel kann es helfen, Fertigkeiten wie etwa Konflikt-, Zeit- und Selbstmanagement oder Problemlösungsstrategien mit Hilfe von Schulungen zu verbessern, rät Semmer.
"Auf der emotionalen Ebene kann ich versuchen, mich zu entspannen und abzulenken, indem ich Sport zu treibe", zählt er auf. Auch Hobbies können helfen, die Anspannung im Berufsleben zu vergessen. Ganz wichtig sei außerdem Entlastung und emotionale Unterstützung beim Austausch mit Freunden, der Familie, Kollegen und Vorgesetzten zu suchen. Hilfreich sei auch, sich im Alltag Genuss und positive Gefühle zu verschaffen, rät Diplom-Psychologe und Antistresstrainer Thomas Theuer aus Saarbrücken. Etwa durch ein angenehmes Mittagessen mit einem netten Kollegen. Oder indem man die Aufgaben, die man besonders gerne macht, in den Momenten erledigt, in denen das Motivationstief droht. Das kann für neuen Schwung sorgen.
Entspannung allein bringt es nicht
Wen nach Feierabend oder im Urlaub Gedanken an die Arbeit belasten, für den gibt es ebenfalls Techniken, das Ideenkarussell zu stoppen oder sich abzulenken. "Diese sollen helfen, sich auf den gegenwärtigen Zeitpunkt zu konzentrieren und unerwünschte Gedanken an die Arbeit abzuschalten", erklärt Shachi Shantinath, Fachpsychologin für Psychotherapie am International Center for Psychology in the Public Interest (ICPPI) der schweizerischen Universität Freiburg.
Auch wenn wohlmeinende Freunde, Kollegen und auch Ärzte dies oft empfehlen: Eine Entspannungstechnik zu lernen, bringt es allein nicht, warnt Psychologe Thomas Theuer, der auch als Dozent für progressive Muskelentspannung tätig ist. Dem Stress rücke man im Idealfall mit einer Mischung verschiedener Strategien und Techniken zuleibe - abgestimmt auf die eigene Situation. Was jeweils am besten hilft, lässt sich in Antistress-Trainings sehr gut lernen. Die Kosten hierfür übernehmen in der Regel die Krankenkassen.